Blasorchester Südwind

Der Beitrag über das Blasorchester Südwind ist der älteste Beitrag auf www.vontutenundblasen.de. Ich verfasste ihn im März 2006 als Übungsreportage für mein Studium. Jeder sollte eine Situation seines Lebens möglichst plastisch darstellen. Es war die Zeit vor der Geburt meiner Kinder als ich noch öfter bei Projektorchestern partizipierte. Die Musik sollte in dem Text für Nichtmusiker fassbar sein. Fotos existieren leider nicht. Das erste Smartphone, mit dem jeder zu jeder Zeit Fotos machen konnte, erschien erst 1,5 Jahre später. Auch Blogs gab es zu dieser Zeit noch nicht – deshalb sind die für Blogs wichtigen Zwischenüberschriften erst jetzt entstanden.

Blasorchester Südwind: Eine musikalische Liebesgeschichte im Boxring

Ein dumpfes, trockenes Platschen. Er wirft sich wie  bei einem Sturz auf den Boden um mit einem Purzelbaum nach vorne sofort wieder auf den Beinen zu stehen. „Wenn du fällst, darf es nicht nach einem Unfall aussehen.“ Stephen Melillo reißt seine kräftigen Arme, die an Arnold Schwarzeneggers beste Zeiten erinnern, in die Luft, er fokusiert seinen imaginären Sandsack mit genauem Adlerblick, die Spannung zerreist fast und dann schlägt er zu. Aber Stephen ist kein Boxchampion. Stephen ist Komponist und Dirigent. Sein Ring ist für zwei Wochenenden das sinfonische Blasorchester „Südwind“.

Blasorchester Südwind: Gegründet 1998, Heimat: Oberschwaben

Südwind ist ein Projektorchester, das engagierte Freunde des „sinfonischen Blasorchester“ 1998 gegründet haben. Jedes Jahr trifft sich das Orchester aus dem Raum Oberschwaben an zwei Wochenenden im Frühjahr. Eines, um in Biberach zu proben. Das darauf folgende für die beiden Konzerte in Ehingen und Bad Buchau. Die Mitglieder setzen sich ganz unterschiedlich zusammen. Einige der Instrumentalisten haben Musik studiert und unterrichten an einer Musikschule. Die meisten aber sind ambitionierte Laien, wie sie sich selbst bezeichnen. Menschen, die so eine große Liebe zu ihrem Instrument haben, dass sie es fast genauso gut spielen können wie ein Profi. Da ist zum Beispiel Ludwig, der Chemiewissenschaftler: Er zaubert auf seiner Klarinette so weiche Töne, wie es fast kein namenhafter Solist schafft. Oder Harald mit dem kuriosesten Instrument von ganz Südwind: „Ich kann zwar nicht besonders gut spielen, aber ich kaufe mich mit meinem Instrument sozusagen überall ein. Denn wer hat schon eine Kontrabassklarinette“.

Die Sprache ist die Musik beim Blasorchester Südwind

Die musikalische Leitung übernimmt immer ein international bekannter Blasorchesterkomponist, der eine Auswahl seiner eigenen Werke mitbringt und sie mit den Musikern einstudiert. Jedes Jahr ein anderer. Das ist die Devise, auch wenn viele gerne öfter kommen würden. Dieses Jahr ist Stephen Melillo aus den USA zu Gast. Er spricht kein Wort Deutsch und hält die ganze Probephase auf Englisch. Manch einer schaut da verständnislos aber eigentlich bräuchte Stephen überhaupt keine Sprache. Denn er bringt die Musik durch seine Gestiken, Mimiken und Bewegungen derart zum Ausdruck, dass er das Orchester mit soviel Herzblut spielen lässt, dass er an vielen Stellen beinahe in Tränen ausbricht.

Ausdruck der Gefühle in der Musik

„Wenn ich das, was ich fühle, in Worte ausdrücken könnte, wäre ich Schriftsteller geworden, und kein Komponist“, erzählt Stephen, der im Gesicht ein bisschen ausschaut wie David Haselhoff, aber einen Körper wie ein Bodybuilder hat.

David und Goliath beim Blasorchester Südwind

Der 48-jährige hat bei seinen Stücken eine genaue Klangvorstellung, die er auch mit Unterstützung von Keyboards und Synthesizern in die Realität umsetzt. Aber auch unkonventionelle Hilfsmittel kommen zum Einsatz. Bei seiner viersätzigen Sinfonie „David“, die den Kampf zwischen David und Goliath beschreibt, schwingt ein Mädchen vom Schlagzeugregister ein zusammengelegtes Seil wie ein Lasso und erzeugt damit so ein Geräusch, dass der Zuhörer förmlich darauf wartet, dass der Stein endlich an die Stirn des Feindes geschleudert wird.

Ein Fisch im klaren Wasser hat keine Möglichkeiten sich zu verstecken

Furusato…Heimat…Home: ein Blick in die Noten und jeder Musiker lacht über die einfachen Vierteltöne. Aber Stephen bricht in der Probe nach den ersten Takten mit einem fast zornigen Gesichtsaudruck ab. „Ein Fisch im klaren Wasser hat keine Möglichkeiten sich zu verstecken.“ Jeder weiß jetzt, was er damit meint. Es sind die vermeintlich einfachen Stücke, die im musikalischen Ausdruck Meisterleistungen erfordern. Hier kann man sich nicht hinter schnellen Tutti-Pasagen verstecken, hier muss jeder körperlich und seelisch alles geben. Beim zweiten Versuch klappt es schon besser. Stephen steht vorne wie ein Guru und beschwört das Orchester.

Die Stille ist ein Teil der Musik

Und die Musiker: Sie bekommen rote Gesichter, die Schlagadern am Hals sind geschwollen und trotzdem sind die Glücksgefühle sichtbar und spürbar. Furusato löst bei jedem Menschen patriotische Gefühle aus und als Musiker wird man eins mit seinem Instrument. Der ganze Körper richtet sich nach der Musik. Die Atmung und die Finger arbeiten automatisch, Überlegung und Verstand gibt es nicht mehr, jeder spielt einfach als ginge es ums Überleben, als wäre die Musik selbst die Luft zum Atmen. Als die Töne auf dem Notenblatt aufhören ist das aber nicht das Ende der Musik. Die Stille und die Weite des Raumes sind ein Teil der Musik. Sie klingen, auch wenn es nicht hörbar ist.

Blechbläser schauen aus als hätten sie eine Hasenscharte

Als die Musiker aus ihrer Hypnose aufwachen, sind die Lippen dick und aufgeplatzt, an den Mündern der Blechfraktion ist deutlich der Abdruck des Mundstückes zu sehen. Einige sehen aus, als hätten sie eine Hasenscharte. Aber alle sind glücklich. Im Bauch flattern die Schmetterlinge, wie bei der großen Liebe. Die Musik und diese homogene Gemeinschaft ist die große Liebe. Der bullige Mann vorne schwitzt, die Tropfen rinseln wie ein Bach über sein Gesicht.

Blasorchester Südwind spielt Konzert für Blasorchester und Violine

Aber erst jetzt folgt der Höhepunkt für Musiker, Publikum und für Stephen selbst: Sein 872. von 942 komponierten Musikstücken. Das Konzert für Violine und Blasorchester. Solistin ist die 24-jährige Kanadierin Andrea Tyniec. Sie wirkt so zart und zerbrechlich und hat ein Gesicht wie eine Porzellanpuppe, aber mit einer Ausstrahlung, mit der sie sofort das ganze Orchester und später das Publikum auf ihre Seite reißt. Ihr Übefleiß ist später nicht nur hörbar, sondern jetzt sogar schon sichtbar. Dort, am Hals, wo bei anderen Geigern der Geigenfleck wie ein mittelgroßes Muttermal aussieht, prangert bei ihr eine riesige, dunkelbraune, verhornte Narbe. Was ihrer Schönheit aber keinen Abbruch tut.  

Tanz um den Vulkan

Ihre Zerbrechlichkeit ist vorbei, als sie ihrer im Jahr 1741 gebauten Geige den ersten Ton entlockt. Ein Flagolettremolo, das so hoch ist, dass es in den Ohren weh tut. Man möchte, dass es aufhört, aber man möchte es doch nicht, diese Zerrissenheit treibt einem die Tränen in die Augen. So müssen die Sirenen auf Odyseus gewirkt haben. Aber dann ist es schlagartig vorbei und ein Feuerwerk in Moll ist entzündet. Andrea verschmilzt mit ihrer Geige und bearbeitet sie trotz der wahnwitzigen Läufe mit einer intensiven Zärtlichkeit. Der Adrenalinspiegel bei allen steigt. Stephen tänzelt, schneidet Grimassen, schwingt die Hüften und windet sich wie eine Schlange. Alles, um das Orchester anzutreiben, das zum Teil mit fünf Kreuzen zu kämpfen hat und doch Leichtigkeit und Spritzigkeit demonstrieren soll. Nach einer halben Stunde ist alles vorbei. Stephen küsst Andrea und steigt aus dem Ring. Er hat Meisterleistung vollbracht. Er hat gewonnen und mit ihm das Blasorchester Südwind.   

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