„We Are One“: Das Album, das das Musikkorps der Bundeswehr zusammen mit der Heavy-Metal-Band U.D.O aufgenommen hat, ist am 17. Juli 2020 erschienen. Bei www.vontutenundblasen.de lest ihr allerdings erst jetzt darüber, denn ich wollte mehr schreiben als nur eine CD-Rezension und dafür braucht es Zeit und Muße. Es hat sich gelohnt, denn ich habe mich nicht nur durch die Musik gehört (meine CD-Rezension zu „We Are One“ findet ihr unter diesem Link), sondern mich darüber hinaus mit den Arrangeuren Guido Rennert und Alexander Reuber, dem Chef des Musikkorps – Oberstleutnant Christoph Scheibling – sowie mit einem der Aufnahmeleiter des Orchesters, Thomas Schmidt, getroffen – in einer Zeit, in der das möglich war und natürlich unter den gegebenen Auflagen.
„We Are One“: Ein Konzeptalbum, das neue Wege geht
U.D.O. ist eine Heavy Metal Band um den Frontmann Udo Dirkschneider, der früher bei der Band Accept spielte. Dort musizierten die Komponisten der meisten Stücke von „We Are One“ – Stefan Kaufmann und Peter Baltes.
Udo Dirkschneider hörte im Jahr 2008 das Marinemusikkorps Nordsee in Wilhelmshaven und wusste sofort: „Blasorchester ist auch Heavy-Metal“. Man initiierte eine „Navy Metal Night“, aber bald darauf wurde das Musikkorps aufgelöst. Das Zentrum Militärmusik hatte Gefallen an dem Projekt gefunden und 2015 trat „Das Musikkorps der Bundeswehr“ mit der Band auf dem Heavy-Metal Festival in Wacken auf. Danach war allen Beteiligten klar: Es muss einen weiteren gemeinsamen Auftritt geben – was 2018 in Elspe mit der „Military Metal Night“ verwirklicht wurde.
Idee zu „We Are One“ entstand in Elspe
„Das war für uns ein reizvolles Format“, erzählt mir Oberstleutnant Christoph Scheibling, Chef des Musikkorps der Bundeswehr. „Wir konnten ein größeres Programm spielen und das Publikum in Elspe kam explizit wegen der beiden Formationen.“ Dort entstand die Idee zur CD. Stefan Kaufmann half in Elspe aus und brachte Udo Dirkschneider auf die Idee, ein gemeinsames Album mit dem Orchester zu produzieren. „Wir wollten aber nicht alten Wein in neuen Schläuchen, also Songs mit Orchesterbegleitung, sondern neue Songs“, so Scheibling. Das Ziel: Das Klangpotential von sinfonischen Blasorchester besonders auszureizen und kein weiteres Album, wie es Metallica, Skorpions oder andere Bands umgesetzt hatten, in denen die Bands von Sinfonieorchestern „nur“ begleitet wurden.
„We Are One“: Ein Konzeptalbum
Anfang 2019 war allen Beteiligten klar: „Es sollte ein Konzeptalbum werden. Jeder Song soll eine Botschaft haben. Programmatische – keine absolute Musik“, erklärt Scheibling. Ein halbes Jahr später waren 30 Songs komponiert und die Verantwortlichen des Musikkorps, Udo Dirkschneider sowie dessen Sohn Sven, Schlagzeuger bei U.D.O., suchten 15 davon aus, die weiterentwickelt werden sollten.
Für die Arrangementkünstler Guido Rennert und Alexander Reuber beginnt jetzt die Arbeit
Damit begann das Kunstwerk von Guido Rennert und Alexander Reuber: Das Gesamtarrangement der Werke, die Stefan Kaufmann, Peter Baltes und Udo Dirkschneider komponiert hatten. Komponieren bei einer Rockband bedeutet nämlich anders als bei einem klassischen Komponisten: Keine Noten!
„Eine Band schreibt keine Noten“, erklärt Alexander Reuber. „Der Schlagzeuger hat einen coolen Groove im Kopf, spielt das ein, schickt das dem Gitarristen. Der spielt etwas darüber und schickt es dann zum Sänger.“ Guido Rennert ergänzt: „Das sind Wahnsinnsmusiker. Es ist für mich unvorstellbar, wie man so Gitarre spielen kann. Aber da brauchst du nicht mit Noten oder Harmonielehre kommen.“
Neuheit: Gitarrennoten in Orchestepartitur
So hatten auch die beiden Arrangeure die Kompositionen als Rohfassung in Audiodateien bekommen: Bass, Melodie und die wichtigsten Gitarrenriffs. „Wir hatten die Freiheit und die Aufgabe, das große Werk zu gestalten, eigene Einleitungen und Übergänge zu kreieren sowie Soli so zu gestalten, dass sie zum Orchester passen“, erläutert Rennert, der, genauso wie Alexander Reuber, noch zusätzlich die reinen Orchesterstücke komponierte.
Guido Rennert und Alexander Reuber hatten sich die Stücke zum Arrangieren zur Hälfte aufgeteilt. Zunächst hörten sie die Bandnoten aus den Audiodateien raus und schrieben sie auf, da das für den Aufnahmeprozess wichtig werden sollte. „In unserer Partitur stehen die kompletten Noten der Band“, sagt Rennert. „So etwas gab es noch nicht zuvor. Bandnoten in einer Partitur.“
Die Arrangementarbeit war darüber hinaus sehr viel arbeitsintensiver als sonst. „Die Telefone liefen von morgens bis abends, die Midi-Files flogen hin und her. Es gibt von jedem Song bestimmt 150 kleinteilige Fassungen“, erinnern sich Rennert und Reuber. Da hatte ein Gitarrist zum Beispiel eine neue Idee für einen Riff und schon änderte sich das ganze Arrangement aus Perspektive der Harmonik. Oder die Band wollte das Stück plötzlich einen Ton höher – plötzlich stießen einige Orchesterinstrumente an ihren Grenzen und die Arrangeure mussten neu instrumentieren. So war die Entstehung der Arrangements eine stetige Entwicklung.
Beispielsweise bei Neon Diamond: Schon fertig aufgenommen und abgemischt, fiel den Beteiligten auf, dass sich die letzten 16 Takte zu sehr in die Länge ziehen und wollten daher den Schluss rausnehmen. Ein Anruf bei Saxophonist Tim Schmitz genügte und dieser nahm zu Hause schnell drei Fassungen einer Saxophonimprovisation auf, die anschließend eingearbeitet wurde.
Ziel: Orchesterfeeling
Auffallend bei der CD ist, dass die sanften Orchesterinstrumente wie zum Beispiel die Klarinetten sinfonisch und an manchen Stellen sehr kammermusikalisch zur Geltung kommen und ihnen viel Gewicht verliehen wurde. „Natürlich sind die Blechbläser sehr dominant und man kann nicht bei jedem Titel so einer Produktion die Holzbläser in den Vordergrund stellen“, erklärt Guido Rennert. „Aber wir haben wirklich versucht, an gewissen Punkten eine Oboe hervor zu holen oder das Fagott hörbar zu machen. Wir wollten dem Zuhörer auch ein richtiges Orchesterfeeling vermitteln.“
Ein Marsch findet sich auf dem Album: Laridah
Eingefleischte Militärmusikfans kommen sogar an einer Stelle auf ihre Kosten. Der Track „Future is the Reason why“ beginnt mit einem traditionellen Marsch. „Laridah“ ist sofort erkennbar, wenn auch in einer anderen Tonart. „Es war wichtig, dass auch ein Marschelement dabei ist, das uns als Musikkorps auszeichnet. Das gehört schließlich zu unserer DNA“, erläutert Guido Rennert. Allerdings bleibt „Laridah“ das einzige Blasmusikzitat. „So ein Element nutzt sich sonst sehr schnell ab“, erklärt Alexander Reuber.
Großes Percussionaufgebot
Austoben konnte sich die Alexander Reuber bei „Natural Forces“ – da schrieb er dem Percussionsatz so viele Stimmen hinein, dass man bei der Aufnahme nochmal splitten musste. Man benötigte sogar viele weitere Instrumente, die gar nicht im normalen Repertoire vorhanden sind. „Live wird das schwer auszuführen sein“, bedenkt Alexander Reuber. „Da braucht man einen halben Spielmannszug.“
Texte kritisieren nicht, sondern wecken Aufmerksamkeit
Die Texte der Songs stammen von den Komponisten, Stefan Kaufmann und Peter Baltes. Sie sollen auf die Probleme und Herausforderungen dieser Welt aufmerksam machen: Klimawandel, Krieg, Umweltzerstörung. „Wir haben keinen Planeten B,“, sagte Udo Dirkschneider bei den Pressekonferenzen zur Veröffentlichung des Albums. „Also lasst uns gemeinsam für das Wohl auf dieser Erde einstehen.“
Ich möchte wissen, ob man das darf: Als ein Orchester, das die Bundesrepublik Deutschland repräsentiert, die Politik bzw. die Regierung kritisieren. „Wir kritisieren nicht. Wir machen nur darauf aufmerksam. Uns selbst für die Probleme, Risiken und Aufgaben in unserer Welt“, stellt Oberstleutnant Christoph Scheibling klar.
Heavy-Metal Sprache: Englisch!
Zu den Texten interessiert mich, warum sie nicht auf Deutsch verfasst wurden. „Wenn Sie nur einen Satz auf Deutsch in der Metal-Szene machen, können Sie gleich wieder von der Bühne gehen“, klärt Scheibling auf. „Hier ist grundsätzlich Englisch angesagt. Gerade deshalb ist es eine besondere Note, dass auf der CD ‚Das Musikkorps der Bundeswehr‘ und nicht ‚Concert Band of the German Armed Forces‘ steht.“
Mammutprojekt: Der Aufnahmeprozess von „We Are One“
Von Januar bis Februar 2020 wurde aufgenommen. Zunächst produzierten Band und Chor ihren Part. Anschließend nahm das Orchester und der Percussionsatz des Orchesters seinen jeweiligen Teil auf. Allein zwei Tage war Tonmeister Thomas Schmidt mit dem Aufbau für die 60 Musiker beschäftigt. Jeder Musiker hatte einen Kopfhörer, über den der Klick und die Musik der Band eingespielt wurden. „Wir mussten mit 40 Kanälen das Orchester und mit rund 30 weiteren Kanälen den Percussionsatz aufnehmen“, erklärt Thomas Schmidt. Er veranschaulicht die digitale Aufnahmetechnik: „Ein analoges Mischpult für alle Spuren der Produktion – Orchester, Band, Gesang, Chor, Percussion und Solisten – dazu wäre 19,80 Meter lang gewesen.“
Keinen Bock gibt es nicht beim „Musikkorps der Bundeswehr“
Vom Aufnahmeprozess gibt es ein Musikvideo mit dem titelgebenden Track des Albums „We Are One“.
Das Video erweckt den Eindruck als hätten die Musiker des Musikkorps viel Spaß bei dem 90-stündigen Aufnahme-Kraftakt gehabt. Ich frage Christoph Scheibling, wie für ihn als Dirigent der Unterschied gefühlsmäßig war, so ein Projekt zu leiten im Gegensatz zu Einsätzen, auf die die Musiker vielleicht nicht so große Lust haben. „Der Begriff ‚Null Bock‘ taucht im Musikkorps der Bundeswehr nicht auf. Aber hier war zusätzlich der besondere Reiz da“, erzählt Scheibling. „‘Kinder schafft Neues‘ um Richard Wagner zu zitieren: Das hat jeden angezündet. Da entstehen Glücksgefühle, wenn ich mich daran erinnere.“ Er lobt seine Musikerinnen und Musiker: „Das ganze Projekt macht mich unheimlich stolz. Das ist ein Lohn von langer Arbeit, die zeigt, dass man sich in dieser Situation auf seine Leute verlassen kann. Es macht mich glücklich.“
Nachdem die Aufnahmen abgeschlossen waren, tat Alexander Reuber viele Nächte kein Auge zu. Er war zusammen mit Thomas Schmidt für die Schneidearbeiten zuständig. Er schätzt, dass das in etwa noch einmal 50 bis 60 Stunden Arbeit waren. „Ich kann nicht leugnen, dass uns da Corona ein wenig zu Gute kam“, gibt er zu. „So konnte man sich voll auf diese Arbeit konzentrieren.“
Lohn der Mühen: „We Are One“ ist in den Hitparaden
All die Mühen der physischen und geistigen Anstrengungen wurden am Ende belohnt. „Udo hat vorausgesagt, dass wir damit in die Top Ten der deutschen Album Charts kommen,“ erinnert sich Christoph Scheibling, der so klingt, als hätte er diese Weissagung zunächst für Utopie gehalten. Aber Udo Dirkschneider sollte Recht behalten: Platz 8 der deutschen Albumcharts und Platz 8 der Billboard Charts (Crossover Produktionen) in den USA. In manchen europäischen Ländern stieg „We Are One“ sogar auf Platz 2.
In der Heavy-Metal Szene polarisiert „We Are One“
In den Heavy-Metal-Rezensionen kommt das Orchester durchweg gut weg. Udo Dirkschneider polarisiert in diesen Besprechungen. Die einen sind hochbegeistert, die anderen kritisieren: Zu neu, zum Teil zu soft, zu wenig Udo-Gesang auf dem Album, zu viele andere Musikstile als nur Heavy-Metal. „Udo hat uns gesagt, er sei 68, er habe schon alles gemacht in seinem Leben, er möchte Neues ausprobieren“, erzählt Christoph Scheibling über ihn. „Wer mitgehen wolle, können mitgehen und wer es nicht verstehen möchte, müsse es nicht. Diese Haltung finde ich großartig. Wer ist denn mit 68 bereit, sich so einem Projekt zu stellen. Die Botschaft von ‚We Are One‘ ist ihm wichtiger als Stilnostalgie der 1980er Jahre. Für Udo ist es ein Lebenswunsch.“
Um das ganze Album live präsentieren zu können, ist der gemeinsame Auftritt mit der Band U.D.O. und dem Musikkorps der Bundeswehr auf dem Heavy-Metal-Festival in Wacken 2021 geplant. Ob der stattfinden kann, steht natürlich heute (Dezember 2020) auf Grund der Pandemie in den Sternen.
Bei Musikkorps-Konzerten: Stücke ohne Band von „We Are One“
Bei normalen Konzerten des Musikkorps der Bundeswehr können sich die Blasorchesterfans auf die Stücke ohne Band freuen – die, die von Guido Rennert und Alexander Reuber extra für das Orchester komponiert wurden – „Blindfold“, „Blackout“, „Natural Forces“ und „Beyond Gravity“. Das sei allerdings davon abhängig, welche Sänger, welche Technik und ob der Dudelsack jeweils verfügbar seien.
Hier lest ihr die Rezension zu „We Are One“: www.vontutenundblasen.de/heavy-metal-blasmusik/