Heeresmusikkorps Ulm bei Olympia 1972

Flötenputzer eröffnet Olympia 1972

Ich freue mich über meinen ersten Gastbeitrag, der durch das im Mai 2022 stattgefundene Freundeskreistreffen des Heeresmusikkorps Ulm zustande gekommen ist. Der Einladung folgen alles zwei Jahre viele ehemalige Wehrpflichtige, Zeit- und Berufssoldaten. Der ehemalige Solo-Fagottist des Saarländischen Staatsorchesters Saarbrücken, Stephan Weidauer (Vita unten), leistete seinen Wehrdienst 1972. Beim Freundeskreistreffen erinnerte er sich an seine Dienstzeit und las amüsante Anekdoten vor. Besonders spannend fand ich die Erzählungen über den musikalischen Einsatz bei den olympischen Spielen 1972 in München, die sich in diesem Jahr zum 50. Mal jähren. So tragisch diese vom Attentat am 5. September überschattet wurden, so hoffnungsvoll begannen sie am 26. August und Stephan Weidauer erzählt hier etwas, was vielleicht niemandem bekannt war. Herzlichen Dank Stephan Weidauer!

Olympia und der Flötenputzer

„Höhepunkt meiner Dienstzeit und vielleicht auch für das ganze Musikkorps war die Mitwirkung bei den Spielen der 20. Olympiade 1972 in München. Enttäuscht waren wir, daß wir täglich die Strecke Ulm-München mit unseren beiden Dienstbussen zurücklegen mußten. Wir hatten auf Quartiere in der Bayern-Metropole gehofft. Dafür war es alles in allem eine große Freude und Ehre, allerdings durch den Schock des terroristischen Angriffs auf die israelische Mannschaft und die Folgen davon jäh unterbrochen.

heeresmusikkorps ulm bei olympiade 1972
Musiker des Heeresmusikkorps Ulm (damals Heeresmusikkorps 10) bei der Olympiade 1972 (von links): Dieter Braun, Stephan Weidauer, Hans Leutheuser (Fagotte); (Vorname?) Lehmann, Willy Emrich (Oboen). Foto: Archiv Stephan Weidauer

122 Hymnen

Das HMK 10 war eines von mehreren Musikkorps, welche die musikalische Umrahmung der Olympiade  vom 26. August bis zum 11. September 1972 zu bewerkstelligen hatten. Hierzu gehörten Eröffnungs- und Schlußfeier ebenso wie unterhaltende Musik zwischendrin und natürlich das Spielen der Nationalhymnen bei der Vergabe der Goldmedaillen. Ich erinnere mich an wochenlange Proben mit den Hymnen aller 122 teilnehmenden Länder, darunter auch die von San Marino, Niederländische Antillen und Lesotho. Nicht teilnehmen durfte die VR China, dafür Taiwan als Republik China und es gab auch Hymnen heute verschwundener Länder wie Südvietnam und DDR. Letztere sahnte ja mehr Goldmedaillen ab als die gastgebende „BRD“, 20 mal erklang das verpönte „Auferstanden aus Ruinen“, geblasen vom Klassenfeind. Der DDR-Fanclub hatte übrigens seine Plätze direkt neben dem Tribünenabschnitt für die Musikkapelle, man hörte sächsische Kommentare und sah die Hammer-und-Zirkel-Fähnchen.

Plötzlich Playback

Als wir zur Eröffnungsfeier einrückten, erfuhren wir zu unserem größten Erstaunen: die Generalprobe am Vortage war aufgenommen worden und diese Konserve sollte nun eingespielt werden. Wir hatten ja keinerlei Erfahrung mit Play-Back, so saßen dann die meisten Musiker verlegen und ratlos herum, während uns und dem gesamten Stadion die Aufnahme vom Vortage eingespielt wurde. Als Hoser unsere Hilflosigkeit erkannte, raunte er: „Jetzt grapselt’s halt a wenig auf euren Klarinedeln rum!“ Ausgerechnet die neben uns sitzenden DDR-Fans merkten etwas und wir konnten den sächsisch gefärbten Kommentar hören: „Die spiel jo goor nischd.“

Olympische Spiele dank Flötist eröffnet

Wie erwähnt hatten wir Mannschaftsdienstgrade Aufgaben von Orchesterwarten zu erfüllen.  Einer hatte die ehrenvolle Aufgabe, den Taktstock für den Chef zu den Auftritten bereit zu halten und vor dem Auftritt zu reichen. Ausgerechnet zur Eröffnungsfeier vergaß der arme Teufel den Taktstock, was zu einem mittelschweren Tobsuchtsanfall von  Oberstleutnant Sepp Hoser führte. Ein cleverer und mitdenkender Flötist hingegen bot dem Chef seinen Flötenputzer als Ersatz zum Dirigieren an, dem Chef blieb nichts anderes übrig als zuzugreifen. Sie dürfen es als verbürgtes Faktum nehmen: die Olympiade in München wurde mit einem Flötenputzer eröffnet. Am 22. April 2018 nahm ich erstmals an einem Kameradentreffen des Heeresmusikkorps Ulm teil.  Bei diesem Treffen gab ich die Flötenputzer-Story nach 46 Jahren zum besten, nach deren Ende sich Harald Recktenwald meldete und kundgab, das sei er gewesen!“

Stephan Weidauer

Stephan Weidauer Fagott
Kameraden von 1972 begegnen sich beim Freundeskreistreffen 2022: Stephan Weidauer (rechts), Willy Emrich (links). Foto: Stephan Weidauer

Vita Stephan Weidauer

wurde 1951 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur am humanistischen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium studierte er dort Musik sowie Musikwissenschaften, Philosophie und etwas Sinologie an der Universität Tübingen.

Seinen Wehrdienst verbrachte er als Fagottist im Heeresmusikkorps 10 Ulm, mit dem er bei der Olympiade 1972 in München mitwirkte.

Nach zweijähriger Tätigkeit als Solo-Fagottist am Ulmer Theater 1975-1977 war er 1977-2012 Solo-Fagottist des Saarländischen Staatsorchesters Saarbrücken.

Solistische und kammermusikalische Konzertätigkeiten führten ihn u.a. nach England, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Estland, Georgien, Ägypten, China, Korea und Japan.

Stephan Weidauer unterrichtete 1987-2011 an der Hochschule für Musik Saar  Fagott und seit 1993 auch Fachmethodik für Holzbläser und leitet seit 1996 eine Fagottklasse an der Musikschule Saarbrücken.

Gastdozent war er u.a. an der Bundesakademie Trossingen, dem Royal Conservatory of Music Birmingham, beim Conservatoire de Musique Luxembourg, bei Bassoon Summer Camps in Korea sowie 2006 und 2007 an acht Universitäten der VR China.

Er verfaßte Fachartikel und Rezensionen u.a. für die musikalischen Fachzeitschriften „Das Orchester“, „rohrblatt“ und „Clarino“. Von 1993 bis 2003 war er Bundesvorsitzender der International Double Reed Society (IDRS) Deutschland e.V.

Bei regionalen und internationalen Wettbewerben ist er gefragter Juror, so beim  Internationalen Instrumentalwettbewerb 2006 in Markneukirchen und 2009 beim Internationalen Tschaikowsky Wettbewerb für Fagott in Moskau und immer wieder beim Europäischen Wettbewerb Luxembourg.

Er war Gastdirigent und Studienleiter mehrerer Blasorchester in Deutschland und Korea und  war 1994-2012 Dirigent des Stadtorchesters St. Wendel.

Seit seiner Pensionierung 2012 studiert er an der Uni Saarbrücken Gräzistik, hält Vorträge über Altgriechische Antike und gibt Kurse zur deutschen Schrift (Fraktur, Sütterlin, Kurrent). Für die Fachzeitschrift „Die deutsche Schrift“ verfaßt er Artikel und ist zuständig für die Buchbesprechungen.

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