Die Sächsische Bläserphilharmonie wird das einzige Orchester in meiner Serie sein, das nicht bei der Bundeswehr oder bei der Polizei angesiedelt ist, denn es ist das einzige zivile Berufsorchester meiner Serie. Ich schreibe bewusst nicht „ziviles Berufsblasorchester“, denn, die nächste Besonderheit: Die Sächsische Bläserphilharmonie ist das einzige Orchester unter den 129 von der Deutschen Musik- und Orchestervereinigung (unisono) gezählten Berufsorchestern in sinfonischer Bläserbesetzung. Bei meinem Besuch in Bad Lausick habe ich viele spannende Fakten erfahren.
Die Sächsische Bläserphilharmonie: Ein Orchester mit absolutem Alleinstellungsmerkmal
Viel Grün, viel Wald, viel Wiese und der Zug ist so gut wie leer. Ich fahre mit der Bahn vom Leipziger Hauptbahnhof in den Kurort Bad Lausick. Allein diese Fahrt ist die Reise nach Sachsen wert, um mir ein eigenes Bild von der Sächsischen Bläserphilharmonie zu machen. Während meines Fußmarsches vom Bahnhof zur Bläserakademie, dem Gebäude, in dem das Orchester untergebracht ist, begegne ich gerade mal einer Person. Ich war zuvor der Annahme, Bad Lausick sei ein Stadtteil Leipzigs. Wahrscheinlich deshalb, weil die Sächsische Bläserphilharmonie 1950 als Rundfunk-Blasorchester Leipzig gegründet wurde (zur bewegenden Geschichte des Orchesters findet ihr unter diesem Link einen weiteren Blogbeitrag).
Die einzige Berufs-Bläserphilharmonie Europas
Schon allein wegen dieses Irrtums ist es mir wichtig, jetzt über dieses Orchester zu schreiben, da wir in Süd- und Norddeutschland kaum Kontakt zum Orchester knüpfen können und mir es wichtig ist, unserer Bläser*innen-Szene vorzustellen. Es gibt also ein einziges Profiorchester in Deutschland – besser gesagt ein einziges in Europa -, das zu den 129 deutschen Profiorchestern und nur aus Bläser*innen besteht. Eine Bläserphilharmonie.
„Darauf sind wir wirklich stolz“, sagt Orchestermanagerin Barbara Venetikidou. Sie trifft sich jährlich mit allen Orchestermanager*innen Deutschlands im Zuge des Deutschen-Bühnenvereinstreffen. „Alle wissen, was die Sächsische Bläserphilharmonie ist.“ Außerdem ist das Orchester in der Eingruppierung der Tarife ein so genanntes „A-Orchester“ – also die gleiche Liga wie die Berliner oder die Münchner Philharmoniker.
Die Sächsische Bläserphilharmonie: Kein Blasorchester
Beim Probenbesuch im Konzertsaal des Gebäudes fällt mir peinlicherweise die charakteristische Besetzung zunächst nicht auf, da der Klang genau so stimmt, wie er ist, obwohl nur fünf Klarinetten besetzt sind (das merke ich natürlich schon). Aber: Die Sächsische Bläserphilharmonie ist kein Blasorchester.
„Was uns von den Blasorchestern unterscheidet“, erklärt mir Chefdirigent Peter Sommerer, „wir haben keine Saxophone.“ Tatsächlich, da sitzt kein Saxophon. Kein Alt, kein Tenor, kein Bari-Sax. „Das kommt aus der Tradition des Rundfunk-Blasorchester Leipzig. Wenn wir einen Saxophonsatz hätten, würde das für die Klangbalance bedeuten: Wir bräuchten viel mehr Klarinetten.“ Die Saxophone werden im Orchester ersetzt durch zwei Flügelhörner, zwei Tenorhörner und ein Bariton. „Das weiche Blech in der Mitte ist nicht so signifikant im Klang, aber es ist die perfekte Mischung zwischen Holz und dem tiefen Register. Dadurch können wir kraftvoll und gleichzeitig weich spielen.“ Deshalb auch Tenorhörner und keine Euphonien, frage ich. „Richtig“, betätigt Peter Sommerer. Saxophone werden bei der Sächsischen Bläserphilharmonie nur ab und zu so eingesetzt wie bei einem Sinfonieorchester – also beispielsweise als Soloinstrument bei Maurice Ravels „Bolero“.
Die spezielle Herausforderung der Sächsischen Bläserphilharmonie
„Wir sind weder ein Sinfonieorchester noch ein Blasorchester. Wir sind ein sinfonisches Orchester, das zufälligerweise in einer Bläserbesetzung spielt. Viele Leute können sich das erst kaum vorstellen, was das ist und wenn sie es dann hören, sind sie sehr begeistert“, erzählt Peter Sommerer, der als Instrumentalist Geiger ist. „Oft haben die meisten das Vorurteil: Bläserorchester, da wird es laut. Dass trifft auf uns nicht zu, es ist ein Farbenreichtum und eine dynamische Bandbreite, wir bedienen weder die Klischees des einen noch die Klischees des anderen.“
Das Repertoire der Sächsischen Bläserphilharmonie
Eine außergewöhnliche Besetzung braucht auch außergewöhnliche Noten. Alle Werke werden speziell für die Besetzung arrangiert. Für das Orchester kommen weder Sinfonieorchesternoten, noch Blasorchesternoten und auch keine Arrangements von klassischen Werken für Blasorchester in Frage. Letztere müssen nochmal umarrangiert werden. Ein Bild davon kann man sich mit der aktuellen CD „La Valse“ machen, auf der Werke aus der französischen Sinfonik von Hector Berlioz, Frédéric Chopin, Maurice Ravel, Gabriel Fauré und César Franck zu hören sind. Das Album ist für den OPUS Klassik 2023 nominiert. Ich drücke die Daumen.
7000 Arrangements im Archiv
Schon von Beginn an wurden die Werke für die Sächsische Bläserphilharmonie bzw. für das früherer Rundfunk Blasorchester Leipzig arrangiert. Davon zeugt das Archiv im Keller der Bläserakademie. Herr über die circa 7.000 Stücke umfassende Bibliothek ist Archivar Michael Nestler, der Solo-Tubist im Orchester ist. Denn jedes Orchestermitglied übernimmt aus Herzblut noch weitere Aufgaben. „Die ganzen Notensätze wurden uns irgendwann vom MDR übergeben“, erzählt er. „Da sind Sachen dabei, die könnte man wegen des politischen Kontexts heute nicht mehr spielen, weil sie extra für bestimmte Ereignisse komponiert wurden.“ Aus der Sicht der Musikwissenschaftlerin frage ich, ob das Archiv schon für eine Dissertation in Richtung „Musik und Politik“ genutzt wurde. Nein, bislang noch nicht. Wer das hier also liest und in dieser Richtung ein Thema für eine Doktorarbeit sucht….
Sächsische Bläserphilharmonie im Abonnement
Zurück in die Zukunft. „2024 wird Johan de Meij mit uns zusammenarbeiten“, gibt Barbara Venetikidou einen Ausblick. „Er wird seine Werke extra für unsere Besetzung arrangieren.“ Darauf freuen können sich die Abonennt*innen der so genannten „Anrechtskonzerte“ der insgesamt sechs Abokonzertreihen in sieben verschiedenen Orten im Landkreis Leipzig und Nordsachsen. Seit 2011/2012 gibt es die Anrechtskonzerte und die Abonnentenzahlen steigen Jahr für Jahr. „Es gibt eine hohe Identifikation des Publikums mit uns“, sagt Stefanie Schennerlein, zuständig für die Anrechte im Orchester. „Die Abonnenten stehen auf unserer Seite und haben uns auch in Corona-Zeiten sehr viel unterstützt.“ Das ist ebenso das Besondere an der Sächsischen Bläserphilharmonie: Nirgendwo in Deutschland gibt es Aboreihen wie bei den Sinfonie- und Kammerorchester üblich, für eine reine Bläserbesetzung. Wie auch – die Blasorchester von Bundeswehr und Polizei sind schließlich reine Reiseorchester.
Ich persönlich finde Abonnements eine große Bereicherung für die Kulturwelt. Selbst besitze ich ein Theaterabo und ist man noch so müde, hat man noch so wenig Lust: Man rafft sich auf und geht zur Aufführung und am Ende ist man froh, dort gewesen zu sein. Meist ist man am Ende des Programms positiv überrascht von Dingen, die man sich selbst nicht ausgesucht hätte. „Mit einem Abo probiert man auch mal Kutteln in Ingwersauce“, sagte vor einiger Zeit Andreas Martin Hofmeier zur Lokalzeitung in meinem Wohnort Ingolstadt, wo er die Kabaretttage organisiert. Brücke nach Sachsen: Bei der Sächsischen Bläserphilharmonie wird er mit seiner Tuba der nächste Solist sein.
Die Sächsische Bläserphilharmonie und ihr Bildungsauftrag
Das vierköpfige Managementteam des Orchesters organisiert etwa 110 Konzerte im Jahr. 40 davon sind Schulkonzerte, denn das Orchester hat neben seinem Kulturauftrages einen Bildungsauftrag, das es mit einem großen Musikvermittlungsangebot erfüllt. Gerade erst ist das neue Programm „Das Orchesterhaus“ für Schulen erschienen.
Zuhörer*innen außerhalb des Landkreises Leipzig und Nordsachsen können die Sächsische Bläserphilharmonie bei Festivals wie beispielsweise dem Liszt Festival Raiding am 28. Mai 2023 oder der Innsbrucker Promenadenkonzerte am 14. Juli 2023 erleben. „Wir werden mehr auf die großen Festivals gehen. Wir müssen den Sprung nach außen schaffen und extrovertierter werden“, ist Barbara Venetikidous Wunsch.
Die Sächsische Bläserphilharmonie und ihr Akademieauftrag
Am 22.Oktober 2023 können Zuhörer*innen die Sächsische Bläserphilharmonie bei einem Konzert in der Stadthalle Neusäß bei Augsburg erleben. Dass es dazu kommt, hat mit einer weiteren Aufgabe des Orchesters zu tun: Dem Lehrauftrag bzw. dem Akademieauftrag. Für Dirigierklassen verschiedener Hochschulen wie beispielsweise der Musikhochschule Leipzig oder Mannheim stellt sich die Sächsische Bläserphilharmonie als Lehrorchester zur Verfügung. Auch mit dem Blasorchesterleitungsstudiengang der Universität Augsburg existiert eine Kooperation, innerhalb der das Orchester nach Augsburg fährt, bevor es in Neusäß auftritt. Von der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin besuchen Kompositionsstudierende Bad Lausick, um dort an ihrer Profession zu üben und vom Blasmusikverband Sachsen kommen die Amateure innerhalb ihres C- und D-Kurses.
Komplizierte Finanzierung
Insgesamt hat die Sächsische Bläserphilharmonie 36 Stellen geplant, besetzt sind nur 31. „Für die vierte Trompete, die dritte Posaune, das zweite Fagott, die zweite Oboe und zwei Schlagzeuger müssen wir immer Aushilfen engagieren, denn die Finanzierung reicht nicht“, erklärt Barbara Venetikidou. Die Finanzierung des Orchesters teilen sich der Freistaat Sachsen, aus dessen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus 70 Prozent des Budgets stammen und der Kulturraum Leipziger Land. In Sachsen bilden die drei großen Städte des Bundeslandes und jeweils zwei Landkreise so genannte Kulturräume. Diese Kulturräume sind jeweils zuständig für die kulturellen Einrichtungen, die sich in den zwei Landkreisen befinden. Der Kulturraum Leipziger Land, in dem sich die Sächsische Bläserphilharmonie befindet, besteht aus den Landkreisen Leipzig und Nordsachsen.
Jeder übernimmt mehr, als er muss
Auch wenn das Geld knapp ist und die Musiker*innen nur 76 Prozent des A-Tarifes erhalten – die Motivation und der Zusammenhalt ist 100 Prozent. „Sie übernehmen alle Aufgaben, die weit über ihren Vertrag hinaus gehen“, erzählt Barbara Venetikidou. „Sie kümmern sich um die Akademie, um das Programm oder um das Archiv. Jede Musikerin und jeder Musiker hat eine doppelte Aufgabe.“
Die Sächsische Bläserphilharmonie – unsere Firma
Dieser Orchestergeist, der bei der Sächsischen Bläserphilharmonie lebt, hat mit der Vergangenheit kurz nach der Wende zu tun, als das Ensemble um seine Existenz kämpfen musste. „Das hat die Musiker zusammengeschweißt“, erzählt Barbara Venetikidou. „Mit diesem Zusammenhalt werden auch die jüngeren Musikerinnen und Musikern infiziert. Das Orchester lebt durch diesen Zusammenhalt. Wir haben keinen einzigen Musiker im Orchester, der nicht gerne zur Arbeit kommt. Wenn sie über das Orchester sprechen, sagen sie ‚Das ist unsere Firma‘“.