Musizierurteil – Üben erlaubt

Nicht jeder hat so viel Glück wie ich. Wenn ich übe, dann in meinem Reihenendhaus. Das ist sehr neu, sehr energieeffizient und offensichtlich sehr schallisoliert. Nach einem sehr intensiven Test mit dem nächsten Nachbarn ergab sich: Der Nachbar, dessen Kinder um 19 Uhr ins Bett müssen, hört nichts. Sagt er. So kam es schon vor, dass ich um 22 Uhr die Klarinette auspackte.

Wie das Musizierurteil zu Stande kam

Von diesen paradiesischen Zuständen kann der Berufstrompeter aus Augsburg wahrscheinlich nur träumen. Sein Fall ging im Herbst 2018 durch alle Medien. Er lebt, so heißt es in der Pressemitteilung des Bundesgerichtshofes, ebenfalls in einem eigenen Reihenhaus – allerdings stammt das aus den 1950er Jahren. Er übt dort an zwei Tagen pro Woche jeweils drei Stunden und gibt zwei Stunden pro Woche Trompetenunterricht. Die Mittags- und Nachtruhe hält dieser Mann – anders ich – strikt ein. Seinem Nachbar war das trotzdem zu viel. Er behauptet, die Übungsmusik mache ihn krank und der Sohn, der in Nachtschicht arbeitet, käme nicht zu seinem Schlaf. Er verlangte von dem Musiker Maßnahmen, dass er die Trompetentöne nicht mehr wahrnimmt und verklagte den Trompeter.

Zunächst bekam der Nachbar Recht

Der Fall ging zunächst zum Amtsgericht Augsburg. Schon davor gab es in Deutschland an vielen Amts- und Landesgerichten Urteile zum Musizieren zu Hause – in den meisten Fällen hatten die Gerichte entschieden, dass ein absolutes Musikverbot nicht möglich ist und dass Nachbarn Musik in einem bestimmten Umfang hinnehmen müssen. Daher sah sich der Musiker auf der sicheren Seite. Allerdings gab das Amtsgericht dem Nachbarn Recht. Das Gericht verbot dem Musiker das Spielen zwar nicht direkt, aber verlangte, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, dass der Nachbar nichts mehr hört. Ergo: Das Haus sehr aufwendig umbauen. Das wäre aber ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, vor allem weil der Nachbar schon Wände und Böden gedämmt hatte. Die einzige Möglichkeit, diese Maßnahme umzusetzen wäre gewesen: Der Trompeter hätte seinen Beruf nicht mehr ausgeübt.

In Berufung

Der Trompeter ging in Berufung. Eine Berufung ist ein Rechtsmittel gegen ein Urteil der ersten Instanz, bei der die Beweisaufnahme wiederholt wird. Die zweite Instanz, das Landgericht, stellte bei einem Ortstermin fest: Wenn der Trompeter im Dachgeschoss übt, hört man das im Wohnzimmer des Nachbar nicht. Im Schlafzimmer hört der Nachbar die Übungen im Dachgeschoss leise. Übt der Trompeter im Wohnzimmer und sitzt der Nachbar in seinem Wohnzimmer, sind die Übungen als „schwache Zimmerlautstärke“ wahrnehmbar. Das Landgericht machte dem Trompeter daraufhin im Jahr 2017 folgende Auflagen: Den Musikunterricht sollte er ganz unterlassen. Üben durfte er nur noch im Dachgeschoss und das maximal zehn Stunden pro Woche werktags (Montag bis Freitag) zwischen 10 und 12 Uhr und zwischen 15 und 19 Uhr. An maximal acht Samstagen oder Sonntagen im Jahr durfte der Trompeter laut diesem Urteil zwischen 15 und 18 Uhr jeweils maximal eine Stunde üben. der Trompeter ging in Revision. Die Revision ist ein Rechtsmittel gegen eine gerichtliche Entscheidung, bei der die tatsächlichen Umstände nicht noch einmal untersucht werden, sondern nur das Urteil der vorherigen Instanz – also hier das Urteil des Landgerichts – auf Rechtsfehler überprüft wird.

Foto: Gerd Altmann – pixabay

Der Fall landete beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Die dortigen Richter empfanden das Urteil des Landgerichts zu streng. Allerdings könne der Trompeter auch nicht ständig spielen, sagte die vorsitzende Richterin. Beide Seiten müssen zu ihrem Recht kommen. Es gelte nicht das „Alles-oder-nichts-Prinzip“. Bei der Regelung wie es das Landgericht vorsehe, dürfte der Trompeter nicht einmal bei einer Familienfeier im Wohnzimmer spielen. Auch wurde vom Bundesgerichtshof kritisiert, dass das Landgericht den Musikunterricht komplett untersagt hätte. Am 26. Oktober 2018 stellte der Bundesgerichtshof also fest. „Das häusliche Musizieren einschließlich des dazugehörigen Übens gehört zu den sozialadäquaten und üblichen Formen der Freizeitbeschäftigung und ist aus der maßgeblichen Sicht eines ‚verständigen Durchschnittsmenschen‘ in gewissen Grenzen hinzunehmen, weil es einen wesentlichen Teil des Lebensinhalts bildet und von erheblicher Bedeutung für die Lebensfreude und das Gefühlsleben sein kann. Es gehört – wie viele andere übliche Freizeitbeschäftigungen – zu der grundrechtlich geschützten freien Entfaltung der Persönlichkeit.“

Andererseits soll auch dem Nachbarn die eigene Wohnung die Möglichkeit zur Entspannung und Erholung und zu häuslicher Arbeit eröffnen, mithin auch die dazu jeweils notwendige, von Umweltgeräuschen möglichst ungestörte Ruhe bieten. […]. Dabei hat ein Berufsmusiker […] nicht mehr, aber auch nicht weniger Rechte als ein Hobbymusiker.Den Richtwert, den der Bundesgerichtshof dabei nennt, beschränkt die Übezeit nun auf zwei bis drei Stunden an Werktagen und auf ein bis zwei Stunden an Sonn- und Feiertagen – jeweils unter Einhaltung der üblichen Ruhezeiten in der Mittags- und Nachtzeit. Auch den zeitlich begrenzten Musikunterricht sieht der BGH als sozialadäquat an. Allerdings sollte Rücksicht auf den Gesundheitszustand eines Nachbarn genommen werden.Die konkrete Entscheidung des Bundesgerichtshof ist deshalb eine Aufgabe an das Landgericht (Az. V ZR 143/17): Das Landgericht muss die Interessen beider Seiten noch einmal neu abwägen und darf das Musizieren nicht so stark wie in seinem ersten Urteil einschränken. Durch diesen Richtwert wurden die Rechte von Musikern sehr gestärkt.

Andere Sachlage in Mietwohnungen

In Mietwohnungen und Mietshäusern schaut die Sachlage noch einmal ganz anders aus. Aber auch dort darf Musizieren nicht ganz verboten werden. Meistens steht in der jeweiligen Hausordnung ein konkreter Absatz. Zudem gibt es zahlreiche Urteile für musizierende Mieter. Zum Beispiel ist nach einem Beschluss des Landgerichts Freiburg Schlagzeug spielen je eine Stunde vormittags und nachmittags erlaubt (Az.: 4 T 20/03) und nach 19 Uhr ganz zu unterlassen – das sagt das Landgericht Nürnberg-Fürth (Az.: 13 S 5296/90). Akkordeon darf nach einem Urteil des Landgerichts Kleve täglich 90 Minuten gespielt werden. (Az.: 6 S70/90). Bei Pianisten gibt es unterschiedliche Urteile – und da spielt nicht nur das Spielen eine Rolle. Hier muss beim Aufstellen eines Flügels auch die Statik bei Mietwohnungen berücksichtigt werden.

Ein Kriterium, um das sich Bläser, Gott sei Dank, nicht kümmern müssen.

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